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Text ursprünglich erschienen in: Mittenwalder Landbote, Mai 2006.

Das Massaker von Sant'Anna

Der 12. August 1944
Das kleine Bergdorf Sant'Anna di Stazzema liegt in 600 Meter Höhe am Südrand der Apuanischen Alpen. Von der Dorfkirche aus blickt man auf das Mittelmeer bei Viareggio, 25 Kilometer nördlich von Pisa. Im Sommer 1944 waren die Alliierten von Süden her auf dem Vormarsch und die deutschen Besatzungstruppen bezogen quer über den schmalen Küstenstreifen und über die Berge eine neue Frontlinie.

Die ganze italienische Bevölkerung vom Säugling bis zum Greis wurde von den Wehrmachtsstellen zu dieser Zeit allgemein als Feind betrachtet, in der Sprache der Nationalsozialisten hieß das: Gegen diese "Banditen und Bandenhelfer" sei "die Truppe daher berechtigt und verpflichtet auch gegen Frauen und Kinder jedes Mittel anzuwenden, wenn es nur zum Erfolg führt."

Anfang August 1944 hatten sich die vorher in der Gegend operierenden Partisanenverbände wegen der deutschen Militäroperationen bereits zurückgezogen. In Sant'Anna hielten sich jedoch weit mehr als die zu Friedenszeiten etwa 300 Bewohner auf. Viele Menschen aus den Küstenstädten suchten Zuflucht vor Krieg, Bombardements und Hunger. Zudem waren die Männer dort vor der Rekrutierung zu Wehrdienst oder Zwangsarbeit sicher.

Daher flohen auch die meisten Männer, als sich am frühen Morgen des 12. August 1944 Truppen auf Sant'Anna zu bewegten. Die vier Kompanien der 16. SS-Panzergrenadier-Division "Reichsführer SS" marschierten auf allen drei Zuwegen hinauf zum entlegenen Bergort. Bei den weiträumigen Absperrungen des bergigen Geländes leisteten nach neuen Erkenntnissen weitere Wehrmachtstruppen u.a. auch aus der Mittenwalder Gebirgsjägerschule Hilfe (siehe auch den Artikel "Angreifbare Traditionspflege").

Die etwa 300 Soldaten der SS-Division trieben die Menschen, vor allem Kinder, Frauen und alte Menschen zusammen oder erschossen sie gleich in ihren Häusern und brannten diese nieder. Vor der Dorfkirche wurde die größte Gruppe zusammengetrieben und erschossen. Die Menschen beteten, als sie im Maschinengewehrfeuer getötet wurden. Nach dem Blutrausch wurden die Leichen samt Kirchgestühl mit Flammenwerfern in Brand gesetzt. Insgesamt 560 Menschen wurden in Sant'Anna die Stazzema von der SS-Division ermordet.

"Da saßen sie vor ihren kleinen Häuschen. Sie waren ganz still. Ich habe geschossen. Alle haben geschossen. Wir haben einen ganzen Patronengurt leergefeuert." (Ludwig Göring, damals SS-Rottenführer)

In wenigen Situationen siegte bei einzelnen Soldaten das menschliche Mitgefühl über die nationalsozialistische Pflichterfüllung. Sie ließen einige der zum Tod Bestimmten in den Wald entkommen, schossen in die Luft. Die Kinder und Frauen, die dem Massaker entkommen konnten, verdanken ihr Leben denjenigen, die den Befehl zum Mord unterliefen. Am 12. August 1944 waren die meisten Tatbeteiligten jedoch gehorsam bis zum Mord. Und sie haben bis heute kein Unrechtsbewusstsein entwickelt.

Strafverfolgung in Deutschland wird weiter verschleppt
Fast 60 Jahre hat es gedauert bis gegen einige der Täter von Sant'Anna di Stazzema endlich Anklage erhoben wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Akten der von den Alliierten sofort eingeleiteten Ermittlungen schon bald aus Rücksichtnahme auf den NATO-Partner Deutschland zurückgehalten worden. Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde von der italienischen Militärstaatsanwaltschaft das Verfahren 1994 wieder aufgenommen. Im April 2004 wurde dann endlich der Prozess in diesem umfangreichen Verfahren vor dem Militärgericht von La Spezia eröffnet.

Im Jahr 2005 verurteilte das Gericht alle 10 angeklagten ehemaligen SS-Offiziere zu lebenslangen Haftstrafen und Entschädigungszahlungen. Das Urteil stellt fest: Das Massaker von Sant'Anna war eine geplante Mordaktion. Die Verurteilten verfügten über Befehlsgewalt, sie haben verbrecherische Befehle zum Mord ausgegeben oder selbst exekutiert.

In La Spezia wurde jedoch in Abwesenheit der Angeklagten verhandelt, da die Bundesrepublik Deutschland keine Deutschen ausliefert. Dieser deutsche Täterschutz gilt auch nach der Verurteilung wegen Mordes. Damit die Täter auch vor Gericht erscheinen müssen und das Urteil nicht wirkungslos bleibt, müsste es einen Prozess in Deutschland geben. Dieser steht allerdings noch aus.

Seit 2002 ermittelt die Staatsanwaltschaft in Stuttgart gegen insgesamt 14 Beschuldigte. Obwohl den Stuttgarter ErmittlerInnen das italienische Urteil und die Akten vorliegen, wurde bisher keine Anklage erhoben. Der Stuttgarter Staatsanwalt hatte bei einem Besuchstermin in La Spezia noch gegenüber den Opfern versprochen, dass nach einem Urteil in Italien zügig ein Prozess in Deutschland eröffnet wird.

Für den Opferverein von Sant'Anna hat der Vorsitzende Enrico Pieri unmittelbar nach dem Urteil Nebenklage beantragt. Er selbst hat als Kind das Massaker überlebt und musste zuschauen, wie fast seine ganze Familie im elterlichen Haus ermordet wurde. Doch die deutschen ErmittlerInnen in Stuttgart verzögern das Verfahren. So wird seiner Rechtsanwältin Gabriele Heinecke immer noch die Akteneinsicht verweigert.

Neben der Verschleppung des Verfahrens bis zum Tod der Beschuldigten ist das Standardargument zur Verschonung von NS-Tätern: Totschlag. Die deutschen Ermittler stufen die Tötungen nicht als Mord, sondern als Totschlag ein. Diese Tat wäre nach deutschem Recht verjährt. Diese Qualifizierung von NS-Verbrechen als Totschlag wird sogar bei der Tötung von wehrlosen Menschen wie in Sant'Anna bemüht. Dazu wird die Tat zunehmend aus der Sicht der NS-Täter beurteilt.

Diese "Totschlag"-Argumentation deutscher Ermittlungsbehörden im Zusammenspiel mit bewusster Verschleppungspolitik kommt fast durchgehend bei allen Strafverfahren gegen NS-Täter zum Tragen. So musste sich bis heute auch noch keiner der 200 angezeigten Gebirgsjäger der 98. Kompanie für die Morde an 317 Menschen im griechischen Kommeno am 16. August 1944 vor Gericht verantworten.