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Der Ulrichsberg: Am Beispiel Walter Reder

Schon sehr früh - und über die Jahre kontinuierlich - setzte sich die Gemeinschaft der "Heimkehrer" am Ulrichsberg für einen der ihren, der nicht heimgekehrt war, ein: Ritterkreuzträger und SS-Obersturmbannführer Walter Reder - der letzte "Kriegsgefangene", wie es noch 1974 am Ulrichsberg hieß.

Geboren wird Walter Reder 1915 in Freiwaldau (heute Jesenik in der Tschechischen Republik). Mit 17 Jahren tritt der illegale Nazi der SS bei, um 1934 schließlich nach Deutschland auszuwandern, wo er deutscher Reichsangehöriger wird. 1936 schliesst Walter Reder die SS-Führerschule Braunschweig ab und ist danach bei verschiedene Einheiten der SS-Totenkopf-Verbände tätig. Darunter beispielsweise auch die 1. SS-Totenkopf-Standarte "Oberbayern", die die Bewachungsmannschaft des KZ Dachau stellt. Seinen ersten Einsatz an der Front erlebt Reder als Teil des SS-Totenkopf-Infanterieregiments Nr. 2, dem nach dem Krieg ein Massaker in der französischen Ortschaft Le Paradis angelastet wird. Nach der Kapitulation Frankreichs wird Reder an die Ostfront verlegt, wo er 1943 im Kampf seinen linken Unterarm verliert. Als Entschädigung dafür wird ihm noch im selben Jahr von Adolf Hitler das Ritterkreuz verliehen.

Zurück an der Front ist Reder zunächst in Jugoslawien, später in Ungarn und schließlich in Italien stationiert, wo er Kommandeur der SS-Panzer-Aufklärungsabteilung 16 der 16. SS-Panzergrenadierdivision „Reichsführer SS“ wird. Nachdem die US-Truppen im April 1944 Rom besetzen und PartisanInnen der Wehrmacht weiter zusetzen, bekommt Reder den Auftrag, "ohne die übliche Zurückhaltung" die für einen Rückzug der Deutschen wichtige Bahnlinie zwischen Bologna und Florenz "bandenfrei" zu machen. Als sogenannte "Vergeltung" für PartisanInnenanschläge wird unter dem Kommando von Reder zwischen 29. September und 1. Oktober 1944 die ganze Region zerstört. Über 800 ZivilistInnen werden ermordet.

Nur wenigen Menschen gelang es, dem Massaker zu entkommen, so Lidia Pirini aus Cerpiano: "Es war der 29. September um neun Uhr morgens. Als ich vom Herannahen der Deutschen erfuhr, flüchtete ich nach Casaglia. Ich habe meine Familie verlassen und war nicht bei ihnen, als sie ermordet wurde. Es waren meine Mutter und meine 12-jährige Schwester, acht Cousins und vier Tanten, die alle am 29. und 30. September in Cerpiano ermordet wurden. Am 29. haben sie sie verletzt. Am 30. kamen die Nazis zurück, um sie umzubringen. In Casaglia hörten wir die Schüsse der Deutschen immer näher kommen. Wir konnten den Rauch der in Brand gesetzten Häuser sehen. Niemand wusste wohin und was machen. Letztendlich haben wir uns in die Kirche geflüchtet. Als die Nazis dorthin kamen, hatte ich Angst, ihnen ins Gesicht zu sehen. Sie schlossen das Kirchentor und alle im Inneren schrieen vor Entsetzen. Wenig später kamen sie zurück und führten uns zum Friedhof. Wir mussten uns vor der Kapelle aufstellen; sie platzierten sich in der Hocke, um gut zielen zu können. Sie schossen mit Maschinenpistolen und Gewehren. Ich wurde von einem Maschinengewehr am rechten Oberschenkel getroffen und fiel ohnmächtig zu Boden."

Elena Ruggier gelang es, sich zusammen mit ihrer Tante, einem Cousin und einem Bekannten in der Sakristei zu verstecken, von wo aus sie das weitere Geschehen beobachten konnten: "Der Priester konnte deutsch und redete mit zweien von ihnen. Sie lachten ständig und zeigten auf ihre Gewehre und weil der Priester beharrlich blieb, erschossen sie ihn vor dem Altar. Ich hatte eine Hand auf den Mund meines Cousins Giorgio gepresst, aus Angst, er würde schreien. Sie ermordeten auch eine Frau, die gelähmt war und sich nicht rühren konnte."

Adelmo Benini musste vom Berg aus zusehen, was unten in Casaglia geschah: "Voller Panik stellten wir fest, dass die Nazis keineswegs Frauen und Kinder verschonten. Das sah man, als sie sie mit Stößen und Fußtritten zum Friedhof jagten. Wir sahen, wie sie das Tor zum Friedhof aufschossen und sie alle auf den Stufen zur Kapelle zusammenpferchten, die Großen hinten, die Kleinen vorne; als ich merkte, wie sie mit den Maschinengewehren zielten, warf ich mich den Bergrücken hinunter und schrie die Namen der meinigen (...). Ich konnte sehen, wie sie mit Maschinenpistolen und Gewehren mitten in die Unschuldigen schossen. Sie warfen Handgranaten und die Soldaten töteten Einzelne, die noch am Leben waren und klagten."

Nicht weit von der Kirche von Casaglia entfernt befand sich der Andachtsraum von Cerpiano. Hier hatte die SS 49 Personen eingesperrt, darunter 19 Kinder. Kurz nach ihrer Ankunft warf die SS Handgranaten in den Andachtsraum. 30 Menschen waren sofort tot. Der achtjährige Fernando Piretti war am Leben geblieben. Weil er glaubte, die Nazis seien abgezogen, zog er die sechsjährige Paola Rossi unter dem toten Körper ihrer Mutter hervor, der sie vor dem Tod bewahrt hatte. Doch die Nazis kamen am nächsten Morgen zurück, um die Überlebenden durch gezielte Schüsse zu töten. Die dritte Überlebende, die Lehrerin Antonietta Benni, schaffte es gerade noch rechtzeitig, die beiden Kinder unter einer Decke zu verstecken. Sie berichtet: "Wir hatten gehofft, dass sie uns nichts antun würden. Stattdessen öffnete sich nach kurzem die Tür und einige Nazis tauchten mit furchteinflößenden Gesichtern auf. In ihren Händen trugen sie Handgranaten und sie sahen uns an, als würden sie ihre Beute aussuchen (...). Dann flogen Handgranaten durch die Tür und die Fenster: Wir schrieen, weinten, flehten, die Mütter hielten ihre Kinder fest, schützten die Gesichter und suchten verzweifelt Schutz. Ich fiel ohnmächtig zu Boden."(1)

Reder wurde 1945 in Salzburg festgenommen und 1948 von den Briten an Italien ausgeliefert, wo er 1951 von einem Militärgericht in Bologna zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Die Vorwürfe lauteten auf Zerstörung der Stadt Marzabotto und anderer Dörfer nahe Bologna im August und September 1944 und Erteilen des Exekutionsbefehls für 2.700 italienische ZivilistInnen in der Toskana und Emilia Romagna im selben Zeitraum.(2)

Seit der Fertigstellung der Anklage gegen Reder betrachtete sich Österreich als "Schutzmacht" für den Kriegsverbrecher, obwohl dieser schon 1934 die Staatsbürgerschaft gewechselt hatte. So stellte sich das Land Oberösterreich auf Intervention des ehemaligen Gauinspektors von Oberösterreich auf den Rechtsstandpunkt, dass Reder Österreicher sei. Anfechtungen durch Beamte des Innenministeriums wurden durch eine Weisung von Innenministers Helmer (SPÖ) unterbunden, Reder somit 1955 wieder österreichischer Staatsbürger. Anfang der sechziger Jahre stellte das Außenministerium schließlich fest, dass Reder der Status und die Behandlung eines Kriegsgefangenen im Sinn der Genfer Konvention zukäme.

Auch in den österreichischenn Medien, von der Kronen Zeitung ("Keine Hoffnung für Walter Reder?") bis zu den Medien der rechtsextremen Szene (Kameradschaft, Aula, ...) war der Verbleib Walter Reders in "Kriegsgefangenschaft" ein gerne aufgegriffenes Thema. Wenig überraschend also, dass auch an der Ulrichsberggemeinschaft der Verbleib eines Mannes, der noch nicht "heimgekommen" war, über die Jahre nicht gleichgültig vorbeizog: Schon im Sommer 1958, noch vor der Errichtung der Gedenkstätte am Ulrichsberg, entsandte die Arbeitsgemeinschaft zur Errichtung der Gedenkstätte Blasius Scheucher, den Vater des heutigen Bürgermeisters von Klagenfurt, zum italienischen Konsulat, "um Initiativen für die Freilassung des Kriegsgefangenen, Major Walter Reder zu bewerkstelligen."(3) Da diese zunächst noch nicht sehr erfolgreich zu verlaufen schienen, wurde auch ein Jahrzehnt später, 1969, an Reder immer noch im Zuge von Ansprachen der Ulrichsberggemeinschaft erinnert.(4) 1974 findet sich Reder dann schließlich gar in der Predigt des "Heimkehrerpfarrers" Hildebrandt wieder: "Wir brauchen keine Kriege, um Kameradschaft zu erleben und zu üben, denn wenn alle Völker unter dem Kreuz stünden, gäbe es keine Kriegsgefangenen, dann wäre auch Major Walter Reder frei und dann würden nicht nur die Sieger recht haben, dann gäbe es Versöhnung."(5)

Während die Heimkehrer am Berg zusammen mit dem Bundesheer ihre mörderischen Traditionen pflegen durften, war die Situation für Reder, wollte er je wieder die Gefängnismauern verlassen, etwas schwieriger: So drückte Reder 1984 seine "tiefe Reue" in einem Brief aus dem Gefängnis an die BürgerInnen von Marzabotto aus, was entscheidend zu seiner Entlassung 1985 beitrug. Bei der Einreise nach Österreich wurde Reder schließlich durch den damals amtierenden Verteidigungsminister Frischenschlager (FPÖ) mit Handschlag in Empfang genommen, was sogar in Österreich für einen Skandal sorgte. Oft wird behauptet, dass es gerade mit der Diskussion um den "Reder-Skandal", zum ersten Mal zu einer breiteren Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit vieler ÖsterreicherInnen kam. Eine Diskussion, die bis heute aber auch an vielen Teilen der Gesellschaft - die Ulrichsberggemeinschaft ist dafür nur ein Beispiel - vorbeigegezogen ist.

Reder, der im Gegensatz zu den überlebenden Opfern des Massakers ab 1967 eine Invalidenrente als "Kriegsopfer" von der Republik bezog, starb 1991 in Wien, nachdem er zuvor lange Jahre in Kärnten gelebt hatte. Die Reuebekundungen im Gefängnis, die ihm die Freiheit brachten, hat er in Österreich schon lange vor seinem Tod wieder widerrufen.

Fußnoten
(1) Alle Zeitzeuginnenberichte stammen aus: Giorgi, Renato (1999): Marzabotto parla. Venezia.
(2) Vgl. Ortner, Christian (o.D.): Am Beispiel Walter Reder. Die SS-Verbrechen in Marzabotto und ihre "Bewältigung".
(3) Norbert Rencher (1999): Ulrichsberg-Dokumentation Nr. 1. Seite 22
(4) ebenda Seite 54
(5) ebenda Seite 67

Ein Nachruf...
"Am 26. April 1991 verstarb unser langjähriger Turnbruder Walter Reder in Wien.(...) Walter Reder wurde am 26. Jänner 1985 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und durfte nach Österreich heimkehren.(...) Er war stets ein Kriegsgefangener und kein 'Kriegsverbrecher', wie manche fälschlicherweise behaupten.(...) Walter Reder war und blieb immer ein Turnbruder für uns. Wir werden ihm stets ein ehrendes Angedenken bewahren." (Bundesturnzeitung, 6/1991, S. 2)